In unserem Leben begegnen wir zahlreichen Unvollkommenheiten und offensichtlichen Fehlern, die von unaufhaltsamer Vergänglichkeit geprägt sind. Oft versuchen wir in der westlichen Welt, diesen Realitäten auszuweichen, ohne zu erkennen, dass sich darin die wahre Schönheit verbirgt. Die japanische Philosophie des Wabi Sabi beschäftigt sich genau mit dieser Sichtweise auf Schönheit und ist seit Jahrhunderten ein fester Bestandteil der dortigen Kultur. Dennoch haben auch wir die Fähigkeit, das Konzept des Wabi Sabi in unserem Leben und vor allem auch in unserem Wohnkonzept zu integrieren! Wir zeigen dir, wie.
Alles zum Thema „Wabi Sabi“:
Die Philosophie von Wabi Sabi liegt in unserer Natur
In der Natur gleicht nichts dem anderen, jedes Blatt, jede Schneeflocke, jedes Sandkorn ist einzigartig. Perfektionismus hat hier keinen Platz. Warum auch, schließlich ist unberührte Natur schön genug. Was wir oftmals in unserer westlichen Welt vergessen: Wir selbst sind Teil der Natur – auch wenn wir in der Sprache gern zwischen „Natur“ und „Mensch“ differenzieren. Da stellt sich die Frage: Wieso streben wir nach Perfektion, wenn wir von Natur aus nicht das Potenzial dafür besitzen?
Vielleicht, weil wir das Gefühl haben, die westliche Welt verlangt es von uns. Erst, wenn wir Perfektion erlangt haben, haben wir es geschafft. Doch fragt dich einmal selbst: Kann nicht auch etwas Unvollkommenes schön sein, Ästhetik besitzen und uns glücklich machen? Denk an einen geliebten Menschen. Oftmals sind es seine Unvollkommenheiten, die ihn authentisch und liebenswert machen. Auch du bist mit deinen „Fehlern“ ein solcher Mensch für jemand anderen.
Was ist Wabi Sabi?
Bei der japanischen Philosophie Wabi Sabi geht es um die Schönheit von Unvollkommenheit, Vergänglichkeit und Einfachheit. Für Wabi Sabi existiert keine genaue Übersetzung; sicher ist, es handelt sich um zwei einzelne Wörter: Das Wort Wabi soll dabei so viel bedeuten wie elend, einsam, verloren. Er beschreibt die Situation eines einsamen Lebens in der Natur, weit entfernt von der Gesellschaft. Das Wort Sabi soll sich hingegen auf Vergänglichkeit beziehen. Was zunächst negativ klingt, wird in der japanischen Kultur positiv aufgegriffen und findet sich in jeglichen Lebensbereichen wieder.
So kann es bei Wabi Sabi in Bezug auf Vergänglichkeit darum gehen, einen flüchtigen Moment zu honorieren und deren Schönheit wertzuschätzen. Zum Beispiel, wenn die Abendsonne durchs Fenster scheint und Teile des Raumes in ein warmes Orange taucht. Es meint aber auch das Zelebrieren von Unvollkommenheiten, zum Beispiel ein Loch im Lieblingspulli. Denn das Loch steht für die oft getragene Freude am Pullover.
Die Geschichte von Wabi Sabi
Um Wabi Sabi besser zu verstehen, werfen wir einen Blick auf deren Anfänge. Im Mittelalter findet die einst chinesische Tee-Zeremonie erstmals in Japan statt. Anders als heute folgte sie damals noch nicht den Ansichten von Wabi Sabi. Es wird teures Porzellan benutzt und die Tee-Zeremonie nur zu Vollmond ausgeführt. Erst mit Teemeister Sen no Rikyū wandelt sich die Zeremonie. Das Porzellan weicht einfachem Geschirr und der Vollmond einem Halbmond von Wolken bedeckt. Einfachheit und Unvollkommenheit sind die neuen Leitbilder der Tee-Zeremonie.
Wabi Sabi im Alltag: Das Perfekte im Unperfekten erkennen
Wabi Sabi erweist sich als Gegenentwurf zum Perfektionismus, eine Lebensphilosophie, die sich dem Drang nach Vollkommenheit entgegenstellt. Richtet man sich nach Wabi Sabi, kann das zu einem bewussteren und erfüllteren Leben führen. Wie du Wabi Sabi in deinen Alltag integrierst? So geht’s:
1. Schönheit, eine Frage der Perspektive
In erster Linie ist Wabi Sabi natürlich eine Frage der Einstellung; was Menschen aus der westlichen Welt oftmals nicht so leichtfällt. In Japan sind Unvollkommenheit und Vergänglichkeit weder ein Tabu noch negativ konnotiert. Es ist Teil der Kultur, trifft auf Akzeptanz und offene Arme. Unvollkommenheit und Vergänglichkeit sollen nicht nur angenommen, sondern zelebriert werden. Sprich, ein weiteres graues Haar ist ein Grund zur Freude. Was für uns absurd klingen mag, kann allerdings sinnvoll sein. Wir können natürlich ein Leben lang krampfhaft versuchen, den natürlichen Gesetzen des Alters entgegenzuwirken … oder aber wir nehmen unsere Vergänglichkeit an und genießen sie. Was klingt nach einem glücklicheren Leben?
Dazu kommt, dass Menschen aus der japanischen Kultur in der Vergänglichkeit das Potenzial für Geschichten erkennen. Stellen wir uns vor, als Neugeborene sind wir ein unbeschriebenes Blattpapier. Jede Falte, jedes graue Haar, jede Narbe ist ein weiteres Kapitel unserer Geschichte. In einer Welt, wo in Sachen Schönheit weder Unvollkommenheit noch Vergänglichkeit toleriert wird, stellt diese Einstellung eine wahre Herausforderung dar. Wenn es dir schwerfällt, denk daran: Der Begriff Schönheit lässt Freiraum, trotz gesellschaftlicher Prägung bleibt es eine Frage der persönlichen Wahrnehmung.
2. Wabi Sabi in der Fotografie festhalten
Die perfekte Pose, das perfekte Lächeln, bei perfekten Lichtverhältnissen. Diese Ambition kann hunderte Fotoversuche und Aufwand bedeuten. Wofür? Für das perfekte Foto, das uns so inszeniert, wie unser Drang nach Perfektion es sich wünscht. Schließlich möchte man eben genau so „perfekt“ sein, wie die Vorbilder auf Social Media. Reicht es am Ende doch nicht, hilft ein Filter. Es ist ein Kampf mit dem Ego, der alles andere als Wabi Sabi gerecht ist.
Würde es nach Wabi Sabi gehen, stände das Festhalten des Augenblicks im Vordergrund. Da kann es schon sein, dass die Augen zu sind, das Gesicht unscharf oder die Haare in allen Richtungen abstehen. Dieses Szenario, mit all den Unvollkommenheiten, repräsentiert den Augenblick, hält deren Schönheit fest.
Es gibt jede Menge Fotograf:innen, die genau mit solchen „Unvollkommenheiten“ spielen, die sie mit ihrem Handwerk in Szene setzen. Eine Blüte, bei der Blätter fehlen; ein umgefallener Baum mit Blick in dessen Innenraum.
3. Wabi Sabi, funktionaler Minimalismus in der Einrichtung
Auch in den eigenen vier Wänden spielt Wabi Sabi eine Rolle. Denn Wabi Sabi steht auch für Ästhetik, die einer Einfachheit folgt – ähnlich wie beim Tee-Geschirr. Hier gilt das Leitprinzip: Jedes Element im Raum besitzt eine Funktion, wofür der Gegenstand im Alltag wertzuschätzen ist. Allein daraus ergibt sich ein minimalistischer Einrichtungsstil. Ein Beispiel dafür: ein geflochtener Bast-Korb, in dem Platz für Wolldecken ist. Alle alltäglichen Gegenstände sollen wertgeschätzt werden, weshalb sie auch trotz Fehler in Benutzung bleiben sollen. Der Gedanke orientiert sich an der japanischen Reparaturmethode Kintsugi. Hier werden Brüche sogar mit Gold hervorgehoben.
Natürliche Schlichtheit steht im Mittelpunkt der Ästhetik, das betrifft sowohl die Farben, Formen als auch organische Materialien. Pflanzen sind willkommen. Gern auch Vintage-Möbel, denn abgeplatzter Lack, Kratzer und andere Unvollkommenheiten erzählen eine Geschichte, besitzen eine „Persönlichkeit.“
Autorin des Artikels ist Judith Püschner.
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