Jede Woche wählen wir bei wmn eine Frau zu unserer weekly heroine, die uns inspiriert und von der wir etwas lernen wollen. Laura Gehlhaar ist eine solche Frau: Sie ist stark, meinungsbildend und hat einen ewig langen Geduldsfaden mit der Gesellschaft. Wir haben mit ihr über ihr Leben, ihre Arbeit und über den Umgang mit Behinderten in der Coronapandemie gesprochen. Haltet euch fest, denn ihre Aussagen könnten vielleicht an wenig an eurer rosaroten Brille ruckeln.
weekly heroine Laura Gehlhaar im Interview mit wmn
Laura Gehlhaar leidet an einer Muskelerkrankung seitdem sie ein Kind ist. Seit ihrem 23ten Lebensjahr bestreitet sie ihr Leben aus dem Rollstuhl heraus. Dabei lässt sie Deutschland an ihrem täglichen Leben teilhaben. Auf ihrem Blog erklärt sie beispielsweise, wie es für sie ist, zu reisen oder einen festen Freund zu haben. In ihrem Buch Kann man da noch was machen? ? räumt sie zudem mit Klischees auf, die noch immer über Behinderte in unserer Gesellschaft bestehen.
wmn: Kannst du mir sagen, wie ich Menschen mit Behinderungen am besten ansprechen soll?
Laura: Ich bin eine große Befürworterin des Wortes “Behinderung” an sich, denn es ist eine Selbstbezeichnung und politisch absolut korrekt. In gewissen Kontexten sagt dieses Wort einfach sehr viel aus und dient ganz genau der Sachlage.
wmn: Wie sieht es aus mit Bezeichnungen wie “Menschen mit besonderen Bedürfnissen” oder “besonders beeinträchtigte” Menschen? Sind das Beleidigungen?
Laura: Ja, genau. Euphemismen wie Einschränkungen, Handicap und besondere Bedürfnisse schaffen keine Inklusion. Es bringt Menschen mit Behinderungen nichts, wenn sich nicht-behinderte Menschen sich schöne Bezeichnungen ausdenken, um dieses unangenehme Thema nicht ansprechen zu müssen oder sich damit beschäftigen zu müssen.
wmn: Euphemismen sprechen behinderten Menschen ja dann auch ab, dass sie ein schönes Leben haben und nicht den ganzen Tag nur heulend in der Ecke sitzen.
Laura: Genau. Aber wir wollen nicht nur stereotype Bilder aufschlüsseln, sondern eben auf Diskriminierungen in der Gesellschaft aufmerksam machen. Ich nenne mal ein einfaches Beispiel: Ich bin kein Mensch mit einem besonderen Bedürfnis. Denn in einem Restaurant auf die Toilette gehen zu müssen, ist kein besonderes Bedürfnis, sondern einfach nur mein gutes Recht. Das muss man sichtbar machen und das schafft nur das Wort “Behinderung”.
wmn: Wie stehst du zu dem Wort normal? Kann man die Wörter normal und behindert als Gegensätze bezeichnen?
Laura: Diese ganzen Bezeichnungen sind für mich erst einmal gesellschaftliche Konzepte. Das sichtbar zu machen, was wirklich passiert, ist mir wichtig. Ich halte von solchen Begriffen generell wenig, denn das Wort “normal” bringt mich nicht weiter. Was mich weiterbringt ist ein Verständnis von Inklusion und die Umsetzung von Inklusion. Wenn wir das geschafft haben, dann bekommt auch das Wort “normal” eine neue Bedeutung.
wmn: Dich unter einen Hut zu bringen ist schwierig, da du irgendwie alles bist. Ich würde dich jetzt mal so zusammenfassen Coachin, Aktivistin, Speakerin, Beraterin und eben auch Rollstuhlfahrerin. Stimmt das ungefähr?
Laura: Das ist genau richtig, es kommen einige Dinge zusammen, die sich aber auch wunderbar ergänzen und überschneiden. Als Unternehmensberaterin kläre ich Unternehmen darüber auf, wie man Diversitäten sichtbarer macht und wie Inklusion stattfinden kann.
wmn: Hast du ein Beispiel-Unternehmen, damit sich die LeserInnen das besser vorstellen können?
Laura: Generell kümmere ich mich um Unternehmen, die das Thema Inklusion nachhaltig stärken wollen. Ich habe beispielsweise im Londoner Flughafen Heathrow daran mitgewirkt, die Serviceleistungen für Reisende mit Behinderungen zu verbessern.
wmn: Dabei geht es unter anderem darum, Menschen mit Behinderungen in diesen Unternehmen einzustellen und es ihnen leichter zu machen, indem Lifts statt Treppen eingebaut werden?
Laura: Ja, genau. Es gibt noch nicht viele Unternehmen, die Menschen mit Behinderungen einstellen wollen. Aber von denjenigen, die gerne Behinderte einstellen würden, höre ich oft: “Wo sind denn die Menschen mit Behinderungen? Wir würden die gerne einstellen, aber es meldet sich davon einfach niemand bei uns auf unsere Ausschreibungen.” Das frustriert natürlich.
Wo sind denn die Menschen mit Behinderungen?
wmn: Wie erklärst du es dir, dass Unternehmen nicht an Menschen mit Behinderungen heranzukommen scheinen?
Laura: Da muss man ganz am Anfang beginnen: In Deutschland hat man als Mensch mit Behinderung ein riesiges Label auf der Stirn. Viele andere Merkmale verschwinden dahinter. Der Weg und die Zukunft sind bereits vorherbestimmt. Man geht vielleicht in einen inklusiven Kindergarten, aber danach fängt bereits die Sonderschule oder die Förderschule an.
Viele landen als Erwachsene in sogenannten “Behindertenwerkstätten”. Zurzeit haben wir in Deutschland gut 300.000 Menschen, die in Behindertenwerkstätten arbeiten und dort auch bis zur Rente nicht mehr rauskommen. Die verdienen im Monat gut 170 €, daraus kann man sich beim besten Willen kein selbstbestimmtes Leben machen.
wmn: Menschen mit Behinderunge finden also einfach zu wenig in der alltäglichen Gesellschaft statt?
Laura: Ja, leider haben Menschen mit Behinderungen nur sehr eingeschränkte Chancen und Möglichkeiten, sichtbar zu werden.
wmn: Du sagst, dass deine eigene Behinderung deinen Charakter beeinflusst und deine Persönlichkeit geprägt hat. Denkst du, dass das immer so ist?
Laura: Ja, total. Meine Behinderung hat mich auf jeden Fall auch dazu gemacht, wer ich bin. Um ein paar positive wie auch negative Beispiele zu nennen: Ich bin sehr bescheiden und erwarte sehr wenig von Menschen. Kinder, die wie ich mit ihrer Behinderung groß werden, werden immer zu Dankbarkeit erzogen. Auch bei Dingen, die für die meisten Menschen selbstverständlich sind. Ich war lange Zeit sehr still und leise. Laut zu werden und meine Stimme zu finden, war ein sehr langer Prozess, denn mein Selbstbewusstsein wurde lange unterdrückt.
wmn: In der Arbeitswelt sind ja auch leider gerade solche Charaktereigenschaften wie Genügsamkeit und Dankbarkeit nicht unbedingt gefordert. Da geht es ja doch mehr um Ellenbogen.
Gerade wird in der Bundesregierung ein neues Gesetz zur Frauenquote durchgeboxt. Findest du, dass es solch ein Gesetz auch für Menschen mit Behinderungen geben sollte?
Laura: Ich denke das würde schon Sinn ergeben. Leider sind wir da in der Gesellschaft noch absolut nicht angekommen. Zuvor müssen noch so viele andere Dinge passieren, damit wir überhaupt irgendwann mit der Diskussion über eine Behindertenquote anfangen können.
Im Bundesteilhabegesetz steht zwar drin, dass behinderte Kinder mit nichtbehinderten Kindern lernen dürfen, aber das passiert einfach zu wenig. Eine Chancen- und Bildungsungleichheit ist also das Allererste, was passieren muss.
Die Diskussion um die Frauenquote ist bereits ein wahnsinniges Privileg. Wenn ich an behinderte Menschen denke, dann sind ganz andere Dinge wichtig. Viele kämpfen derzeit über das eigene Überleben. Gerade in Pandemiezeiten ist für uns alles viel schwieriger geworden.
Die Triage und die Impfpriorisierung vergessen Menschen mit Behinderungen. Sie haben kein Netzwerk, das sie auffangen kann und fallen aus dem Raster. Gerade am Anfang der Pandemie kam es vor, dass wir sozusagen “zum Sterben nach Hause geschickt wurden.” Da ging es darum, wer priorisiert behandelt wird, wenn medizinische Ressourcen ausgeschöpft sind. Menschen, die wie ich an neuromuskulären Erkrankungen leiden, sollten nicht behandeln werden. Das war ein solcher Schlag ins Gesicht. Ich hätte mir absolut nicht vorstellen können, dass so etwas tatsächlich passieren könnte.
wmn: Du fühlst dich da nicht als normaler Menschen wertgeschätzt, sondern auf eine tiefere Stufe gestellt.
Laura: Natürlich. Und wenn man mal ganz ehrlich ist, dann hat das einen Euthanasiecharakter.
Das hat das einen Euthanasiecharakter.
Dass die Politik sich dort herausgehalten hat, hat sich schlimm und verloren angefühlt. Auch jetzt, während die Impfpriosierung verhandelt wurde, fallen Menschen mit Behinderungen noch immer durch das Raster.
wmn: Auf welcher Impfstufe stehst du und die Menschen mit Behinderungen denn dann?
Laura: Auf keiner.
Ich selbst lebe ja selbstbestimmt zuhause. Die Impfstoffe kommen zunächst in die Altenheime, Krankenhäuser und Behindertenheime. Die Politik hat es noch nicht verstanden, dass auch pflege- und assistenzbedürftige Menschen zuhause leben. Teilweise beschäftigen die ein Pflegeteam von zehn Menschen und sind somit auch noch Arbeitgeber. Wir müssen irgendwie schauen, wie wir uns da sichtbar machen können.
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